Ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen!

Viktor E. Frankl




 

 


 (UR-)ANGST & IHR ZWILLING – DIE AGGRESSION
Not-wendend die tiefennoetische Kraft des Geistig-Unbewussten
Dr
in. Heidi Vonwald

Zeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse.
Angst und die Kraft aus dem Geistigen. 2021-2, S. 3-8.


(Foto: Christoph ILSINGER)

 

  •  „Die Pflicht und dein Perfekt-Sein rufen!“, schrie die Angst völlig außer sich. „Du machst einen schweren Fehler. Du wirst ausgeschlossen, bist nicht mehr beliebt und verlierst die Kontrolle, du wirst dann alleine sein!“
  •  In sich ruhend antwortete die tiefennoetischen Kraft1 des Geistig Unbewussten:
    „Richte meinem Herrn Perfekt-Sein-Wollen bitte aus – ich rufe später eventuell zurück. Ich treffe gerade mein Wofür-Es-höchste-Zeit-Ist und mein Urvertrauen!“

Tiefer Wunsch nach 100%iger Perfektheit & großer Stärke & anerkanntem Erfolg & wertschätzender Akzeptanz & persönlicher Kontrolle & keiner Vergänglichkeit im Leben & … - absolute Forderungen an das Leben, deren Erfüllung als lebensnot-wendend erlebt werden. Pyramidale Werte, die für das persönliche Selbstwertgefühl, das innere Gleichgewicht und ein gelingendes Leben existenziell erscheinen. „Wer zu viel Angst hat, ist nicht nur aggressiv nach außen, er ist es auch nach innen“ (Böschemeyer, 2014, S. 104). Die tiefe Angst nicht perfekt zu sein, nicht beliebt zu sein, die ständigen Sorgen, die Kontrolle nicht ausreichend im Griff zu haben – oder über zu viel Nähe, die eigene Autonomie zu verlieren, das regt an, „sich Sorgen zu machen2“. Angstvolle Gedanken werden für die Wirklichkeit gehalten, weil „jeder Mensch eine wesentliche Rolle bei der Kreation seiner eigenen Realität spielt“ (Yalom, 2010, S. 120).

Wer sich für ganzheitlich zerstörbar hält, wird die Zukunft stets auf mögliche Zerstörungsgefahren hin analysieren (Lukas, 2003, S. 34-38), die ängstlich aggressive Ich-Untergangsstimmung hat dann das Kommando völlig übernommen. Störbar oder zerstörbar? Es ist unsere Freiheit und Verantwortung, uns mit den tiefennoetischen, hellen und damit heilsamen Kräften aus dem Geistig-Unbewussten zu verbinden – der lichtvollen und tragenden Dynamik der Liebe, dem Rückgebundensein als wertvoller Teil eines uns überschreitendem großen Ganzen. Angstvolles, aggressiv verzweifeltes und erstarrtes Leben in seinem Opferstatus kann dadurch gewandelt werden.

Das Glanzvolle, die Schönheit eines sinnvollen Lebens, das Friedvolle und das lebendige Verbundensein mit allen Lebewesen wird sichtbar im tagtäglichen Sinn des Augenblicks und der Forderung der Stunde (Frankl), dadurch kann der Zirkel der Angst, Aggression und Ohnmacht aufgebrochen und transformiert werden. Die egozentrische Verblendung in der Ich-Zentrierung muss dafür aber überschritten werden. Ein liebevolles, selbsttranszendendes Bezogensein auf ein wertgeschätztes Du ist unumgänglich. Dalai Lama (2013, S. 147): „Ein Mensch, der wenig Mitgefühl empfindet, erlebt durch diese eingeengte Sicht auch mehr Ängste und Unruhe.“

Sehr klar bringt es Monika Renz auf den Punkt, sie unterscheidet Urangst in zwei Ausprägungen, einerseits in einem Verlorensein und andererseits in einem Zuviel an Ohnmacht, Bedrohung, Gewalt. „In ihren beiden Ausprägungen verdunkelt Urangst das zuvor angelegte Urvertrauen und wird zur frühesten Verletzung. Der gute Mutterboden wird traumatisch überschattet und tabuisiert. Er darf als solcher nicht mehr betreten werden“ (Renz, 2008, S. 36). Schon Marc Aurel hatte gewarnt: „Auf die Dauer der Zeit nimmt deine Seele die Farbe deiner Gedanken an.“ Perseveration3 (Anhaften) und Rumination (Hyperreflexion, Grübeln) sind wesentliche Symptome einer depressiven Erkrankung oder Angststörung.

Jenseits aller Worte - diese überwältigende Ur-Angst (Renz, 2008, S. 98) ist deutlich in ihrem machtvollen Sein: „Herr im eigenen Haus ist nicht mehr das Ich, sondern die Angst oder die Projektion… Der Boden ist dem Ich wie entzogen, denn Angst, wenn sie uns wirklich hat, erfasst uns total… Urangst… Oder aber – jenseits von aller Not – ein überglückliches, friedliches Sein: ein Angeschlossen-Sein und Urvertrauen. Das ist die Alternative: Seligkeit oder Urangst!“

Auch Sören Kierkegaard (2005) verweist, wie das Sich-um-sich-Selbst-Drehen immer tiefer in die ohnmächtige Verzweiflung führt. Kurz betont in einer großen Klarheit, wie Angst zum Inhalt des Lebens wird (Kurz & Sedlak, 1995, S. 321-322): „Es handelt sich immer um Menschen, die vor der negativen Dimension ihres Lebens flüchten oder dagegen anrennen.“ Jede Aufgabe muss perfekt gelöst sein, es darf auf keinen Fall ein Nein zu Überforderungen gesagt werden. Gesunde Abgrenzung ist nicht erlaubt, ein Überfunktionieren - um beliebt zu sein - ist alles. Aber dann ist die angsterkrankte Person besonders verurteilt, sich ständig mit persönlichen Schwächen und innerer Erschöpfung auseinandersetzen zu müssen. Der Urlaub und das Wochenende zur Erholung reichen nicht mehr, Angst vor Misserfolg, der tyrannisiert!

Wo ist jener archimedische Punkt, der eine Welt der angstvollen Erstarrung aus den Angeln hebt? „Was holt ihn [den Menschen] aus seiner Fixierung, Rangstreit und Rechthaben, aus tiefster Erstarrung Resignation, ja aus den Gräbern seiner Prägung heraus?“ Renz (2008, S. 245). „Freiheit, ein `Du darfst´, das jedem `Du sollst´ oder `Du mußt´ vorangeht…. heilt überall dort, wo bis dahin ein über-ich-betontes `Du mußt´ , `Du darfst nicht´ oder gar eine Urprägung des `Es darf dich nicht geben´ einer Biografie zugrunde lag…. Wunden können heilen“ (Renz, 2008, S. 250-251). Angst vor Misserfolg kann durch Hoffnung auf Erfolg (Heckhausen) gewandelt werden. Die erlernten maladaptiven Bewältigungsstrategien können umgeschrieben werden. „Personen mit stark ausgeprägter Furcht vor Misserfolg gehen pessimistisch an Aufgaben in Lern- und Leistungssituationen heran und vermeiden Herausforderungen.4“

Yalom (2010, S. 142) beschreibt eindrucksvoll, wie das Versäumen der ureigendsten Persönlichkeit sich deutlich zeigt: „… wie sich ein unterdrücktes Leben als Todesangst äußern kann. Natürlich … hatte viel vom Tod zu fürchten, da er [der Patient] nicht das Leben geführt hatte, das ihm zur Verfügung stand.“ Auch Kierkegaard (2005, S. 37) erkennt, dass die Bedrohung durch den Tod, der Vergänglichkeit gleichsam den Boden unter den Füßen wegzieht: „Die Angst ist dem Schwindel vergleichbar: Dem, der in einen Abgrund hinabschaut, wird schwindlig .… So ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthesis setzen will und die Freiheit dann in ihre eigene Möglichkeit hinunterschaut und sodann die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zusammen.“ Todesangst kann nach Yalom (2010) nur durch tiefe, menschliche Verbundenheit, die Einsamkeit stoppende Beziehungen überwunden werden. Menschsein bedeutet auch nach Kurz (1995, S. 322-323): „…endlich zu sein, dem Tod ausgeliefert zu sein, fragmenthaft zu sein, gleichsam als Frage konstruiert zu sein: Woher komme ich, wohin gehe ich, wer bin ich, was soll ich tun, was darf ich hoffen, was kann ich wissen?“

Wenn die Angst, vernichtet zu werden, ständig lauert, ist die Versuchung zur Macht allgegenwärtig. Um sich vor immer neuen Verletzungen zu schützen, kommt es zu narzisstischen Abkapselungen. Größenfantasien werden aufgebläht. Renz (2007, S. 117): „Je größer die Ohn-Macht, umso lauter der Ruf nach Mächtigen.“ Die Alltagsbeziehungen sind dann der Ort des Auslebens der versteckt gelebten oder offenen – aus schmerzvoller Angst motivierten Aggressionen. Die Person hat dann mit ihrem Verwurzelt- und Angeschlossen-Sein an ein größeres Sinnganzes keinen Kontakt mehr. Das intentionale Ja zum eigenen Entwurf und den persönlichen Lebensvorgaben fehlt. “Im gähnenden Vakuum ist die Hoffnung nicht zuhause“ (Albrecht, 1997, S. 6), es braucht den Auf-Bruch zu einer tief verwurzelten Identität.

„Wer niemals aufbricht, den bricht das Leben…. Schmerz, das gewohnte Leben zu verlassen…. Weh-Mut. Wehmut ist die psychische Spiegelung der Situation des Aufbruchs…. Die Philosophen sagen: Wenn es gut geht, ist Leben ein Schreiten von Form zum Form“ (Kurz, 2007, S. 4). Das Geheimnis erlösender Liebesdynamik ruft dann den Menschen, Wüstensituationen können durchschritten werden, Erstarrtes kann wieder ins Fließen kommen. Dieses Umsetzen einer neu gewachsenen Identität in ein konkretes Alltags-Leben ist ein tiefer Trost in der Aussöhnung mit angstvollem und ungelebtem Leben.

Lukas (2017, S. 0) spricht eine Einladung aus: „Du bist eine einmalige, einzigartige Person. Du warst erwünscht in dieser Welt… Du wirst gebraucht in dieser Welt. Du hast noch einiges Wichtige vor.“ Auch Renz (2008, S. 311) empfiehlt: „…mit einem authentischen Selbstbewusstsein, das Gefühl für Verantwortung mit der schlichten Fähigkeit zur Daseinsfreude … Er [der Mensch] lebt im Hier und Jetzt, ist durch ein Zeitloses genährt und doch in einen äußersten Sinn- oder Zielhorizont hineingestellt. Begegnungen unter Menschen finden immer mehr statt im Zeichen von Dialogik, von Vereinigung von Gegensätzen, Versöhnung und Frieden.“

Der amerikanische Dichter John Greenleaf Whittier (zitiert in Yalom, 2010, S. 142) erinnert uns alle: „Unter allen traurigen Worten der Zunge oder Feder sind die traurigsten diese: `Es hätte sein können!´“ Schade, wenn die Angst unser BeRUFen-Sein, unser Versöhnt-Sein behindern darf.

 

„Vielleicht bist du hier, um Licht an Orte zu bringen,

die viel zu lange dunkel waren?

Vielleicht wirst du für jene deine Stimme erheben,

die nicht für sich selbst sprechen können?

Vielleicht bist du hier,

um auf eine besondere Art zu helfen,

wie nur du es kannst…“

(Yamada, 2019)

 

LITERATURVERZEICHNIS & ONLINE-QUELLEN

Albrecht, G. (1997). Das Prinzip Hoffnung in der Logotherapie. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. Das Prinzip Hoffnung in der Logotherapie. Sonderheft - Tagungsbericht. 5. Jahrgang. Heft 1. Januar 1997. 6-12.
Böschemeyer, U. (2014). Worauf es ankommt. Werte als Wegweiser (8. Auflage). München: Piper.
Dalai Lama (2013). Stufen und Wege der Selbsterkenntnis. In Hüther, G. & Roths, W. & von Brück, M., Damit das Denken Sinn bekommt. Spiritualität, Vernunft und Selbsterkenntnis (S. 147-148). Freiburg: Herder.
Kierkegaard, S. (2005). Kierkegaard. Jenseits der Angst. München: Verlag Neue Stadt.
Kurz, W. (2007). Aufbruch – Existenzanalytische Anmerkungen/Meditation über das Symbol des Exodus. Tagung IAKM Kreissau/Polen – oder CD: Kurz, W. Aufbruch – von wo, wohin, wozu? Exodus als Symbol für den Aufbruch. CD – Institut für Logotherapie und Existenzanalyse Tübingen/Wien.
Kurz, W. (1995). Kapitel 21. Der anthropologische Hintergrund der Paradoxen Intention. In Kurz, W. & Sedlak, F. Kompendium der Logotherapie und Existenzanalyse. Bewährte Grundlagen. Neue Perspektiven (S. 320-324). Tübingen: Verlag Lebenskunst.
Lukas, E. (2003). Kleines 1x1 der Seelenheilkunde. Impulse zur Selbsthilfe. Gütersloh: Quell.
Lukas, E. & Ragg, M. (2017). Wie Leben gelingen kann. Sinn und Freude Tag für Tag. Kevelaer: Butzon & Bercker.
Renz, M. (2008). Erlösung aus Prägung. Botschaft und Leben Jesu als Überwindung der menschlichen Angst-, Begehrens- und Machtstruktur. Paderborn: Junfermann.
Yalom, I. (2010). In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet (3. Auflage). München: btb.
Yamada, K. (2019). Vielleicht. Eine Geschichte über die unendlich vielen Begabungen in jedem von uns. Berlin: Adrian Verlag.

1 „tiefennoetisch“ – „tiefennoologisch“: Wortschöpfungen von Uwe Böschemeyer, Beschreibung der tiefen, hellen und damit heilsamen Kräfte aus dem Geistig Unbewussten, Aussagen im Zoomseminar „Die Bedeutung des Gegenspielers bei Krankheitsverläufen“ vom 20.03.2021.
2 Uwe Böschemeyer: Die Sorgen entsorgen. Zugriff am 08.04.2021. Verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=z2sL14GLjSQ/
3 Genetische Programmierung. Wie Gene unsere Persönlichkeit beeinflussen (im Film ab Minute 20 – 30 über Perseveration und Rumination). Zugriff am 07.08.2021. Verfügbar unter https://youtu.be/z6w678W3p30/
4 Dorsch, Lexikon der Psychologie. Heckhausen – Furcht vor Misserfolg, Hoffnung auf Erfolg. Aufgerufen am 21.06.2021. Verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/furcht-vor-misserfolg/